Gestern schrieb ich über ein brennendes Auto auf der A5. Heute wachte ich auf und eine vergessene Erinnerung war freigeschaltet: In den späten 90-ern fuhr meine Mutter mich von Sochi nach Novomihailovskyi. Damals lebten wir in einer Wohnung in Sochi, meine Großeltern aber in dem von meinem Opa erbauten Ziegelsteinhaus in Novomihailovskyi. Die Fahrt von einem Ort zum anderen dauerte etwa drei Stunden. Und wir fuhren oft hin und her. Oft. Also könnt ihr euch auch vorstellen, wie viel ich auf dieser Strecke erlebt habe: Glatteis, umgekippte Lkw (weil wilde Kurven), Honig aus eigenem Anbau und Wassermelonenverkauf am Straßenrand.
Doch diese Episode, die sich an jenem Tage zugetragen hatte, prägte mich als Mensch für alle Zeiten. Mama wie immer am Steuer ihres buttercremefarbenen Lada Samara – wir kommen in etwa 40 Minuten an. Sie trägt eine Sonnenbrille und einen selbstdesignten, hautengen Overall in Blumenmuster und offenem Rücken. Tiefer Ausschnitt, kleiner Kragen, toller Stoff – wie immer ein Stück Kleidung nicht von dieser Welt. Wie immer in High Heels.
Ich blickte aus dem Fenster, und plötzlich…
Ich bin etwa 3 oder 4 – Mama führt ein ernstes Gespräch mit mir, die hinten sitzt. Wenn sich nicht alles irrt, ging es um Bienchen und Blümchen, doch heute erinnere sie sich wohl nicht mehr dran. Maximal verwirrt von dem, was ich eben erfahren hatte, blicke ich aus dem Fenster auf der Fahrerseite und sehe auf dem entgegenkommenden Streifen: einen bereits zerschmetterten Pkw, wie er erneut in einen kleineren Transporter knallt. Natürlich wie in Zeitlupe.
Mama bremst. Der Pkw fängt Flammen, ziemlich schnell. Es brennt und die Fahrer anderer Autos halten an. Sie steigen aus ihren Fahrzeugen und eilen zum Unfallgeschehen. Ehe ich realisieren kann, was gerade passiert, springt meine Mutter aus dem Auto und eilt in ihren High Heels über die Straße zu dem brennenden Auto. Zwei Männer versuchen, die Türen mit Gewalt aufzureißen. Vergebens. Sie rufen einander etwas zu. Hektik und Adrenalin.
Die Flammen werden immer größer
Meine Mutter versucht eine der hinteren Türen aufzureißen. Es klappt nicht. Sie hat ein eiskaltes Gesicht – wie immer, wenn etwas passiert, wenn es um Leben und Tod geht. Sie reißt an der Tür, sie hört gar nicht auf und sie will allem Anschein auch gar nicht aufgeben. Die Flammen werden größer. Sie hebt ihr Bein an und drückt mit ihrem Highheel gegen das Auto, während sie weiter an der Tür zerrt. Und sie geht auf.
Meine Mutter zieht einen Mann mit Glatze vom Rücksitz. Er trägt einen grauen Sakko hält sich an ihr fest. Sein Kopf blutet, doch er macht einen recht glücklichen Eindruck – er weiß, er wird weiterleben. Inzwischen wurde auch die junge, blonde Fahrerin aus dem Auto gezogen. Sie war benommen, aber ebenfalls sichtlich dankbar dafür, dass sei eine zweite Chance bekommt. Der Mann vom Beifahrersitz kann ebenfalls gerettet werden.
Meine Mutter ist eine Heldin
Und so erlebte ich meine Mutter, wie sie furchtlos und ohne nachzudenken handelte. Sie hatte sich heldenhaft verhalten und installierte auch in mir diesen Mechanismus. Jahre später sprach sie darüber, wie sie im Nachhinein die Gefahr realisierte, die ihr drohte. Während ich ihr vom Rücksitz unseres Lada zusah, wie sie zielorientiert um das Leben der Menschen kämpfte, die sie nicht kannte, saugte ich dieses Verhalten auf. Mama wurde für mich zu einem noch größeren Heiligtum.
Ich denke viel zu selten an diese Geschichte. Doch sie ist eines der wichtigsten Bausteine für mich, die mein Frauenbild geprägt hatte. Eine Frau war für mich schon sehr früh eine Heldin. Und dies baute ich immer weiter aus. Frauen können alles – und zwar ganz allein. Und zwar nicht nur Menschen aus brennenden Autos retten. Meine Mutter etwa zog mich ganz allein groß. Später auch in einem völlig fremden Land. Sie gab niemals auf. Durch ihr „richtiges Handeln“ und durch ihre „Fehler“ bin ich heute die furchtlose, wilde, energische Frau, die ich immer sein wollte. Danke Mama, dass du du bist. Danke auch dafür, dass du in mir durch dein Wesen diese verrückte Liebe zum Schönen großgezogen hast.
Was ich abschließend sagen will ist, dass jeden Tag Heldinnen geboren werden. Auch wenn die Welt für die zarte Seele oder das Herz einer Frau kein wirklich richtiger Ort ist. Dass wir dennoch wachsen, handeln und nach all dem auch noch lachen können, macht jede von uns zu einer Heldin. Sorry Boys, nächstes Mal schreib ich auch was über euch.