Über zwei Monate gab es vom Zahnarzt kein einziges Lebenszeichen. Ich hatte alles, was zuvor geschah, bereits ganz gut verarbeiten können und merkte immer häufiger, dass ich an ihn denke. Vor allem fiel mir auf, dass es sich gut anfühlte, an ihn zurückzudenken. Ich dachte an sein Haar, die Wärme, die er ausstrahlte, an die vermeintliche Chemie zwischen uns. Bis auf die Sache mit dem Beinahe-Schwängern lief es ja auch relativ gut zwischen uns.
Ich gestand meiner Mutter, dass ich ihn vermisse. „Dann schreib ihm halt“, sagte sie entschlossen und gleichgültig. Es müsse schließlich nichts bedeuten, wenn ich mich bei ihm melden würde. „Bist du völlig verrückt? Ich kann ihm doch nicht einfach schreiben“, wendete ich ein.
Ich werde es auch nie lernen
Rund 90 Sekunden später hatte ich bereits eine Antwort vom Zahnarzt auf meinem Handy. Wir verabredeten uns auf ein Date. Ich war so aufgeregt, ich musste das Kleid, für das ich mich letztlich entschied – es war ein kurzes, schwarzes mit tiefem Rückenausschnitt – sogar in Schwanheim probetragen, um mir ganz sicher zu sein, dass es perfekt war. Es war perfekt.
Als ich ihn wiedersah, flammten alle Gefühle in mir auf, die ich so verzweifelt versucht hatte, zu unterdrücken. Er sah wahnsinnig gut aus – als käme er gerade vom Friseur, braun begrannt, gut gelaunt und mit einer unendlichen Sehnsucht in seinen Augen. Interpretierte ich jedenfalls. Er war komplett mit irgendwelchen güldenen Kettchen behangen, die an jedem Mann scheiße aussehen würden – nur nicht an ihm. Ich fand es mega geil, ihn anzuschauen. Ich fand auch sein viel zu tief aufgeknöpftes grünes Leinenhemd mega geil und spielte später kurz mit seinen buschigen Brusthaaren. Er erfrage mich, wie es mir all die Zeit ging und was ich so getrieben hatte. Er blickte mir tief in die Seele und ich Schäfchen ließ mich volles Rohr drauf ein. Ich werde es auch NIE lernen.
Ich spielte Interview mit dem Zahnarzt
Wir spielten „Interview“. Das sind (mittlerweile) 40 von mir vorbereitete Fragen, die dem Interviewer ein vollumfassendes Bild des Gegenübers liefern sollen. Aus den Antworten könnte man easy ein schönes, tiefes Porträt mit aufschlussreichem Blick hinter die Kulissen schreiben. Wenn man denn wollen würde.
Sinn ist es natürlich, auch selbst auf die Fragen zu antworten. Was ich am meisten daran liebte, war es, ihm beim Nachdenken zuzusehen. Jedes einzelne Mal, als ich ihm eine meiner Fragen stellte, schaute er nachdenklich nach oben, spitzte seine perfekten Lippen, tippte auf sein Kinn oder kniff ein wenig die Augen zusammen. Es war ein Anblick, in den ich mich aufs Neue verliebte. Schäfchen halt.
Das gefiel ihm wohl an mir
Ihn besser kennenzulernen, fand ich natürlich auch richtig schön. Dann kam die Frage: „Was gefällt dir an deinem Gegenüber am meisten?“ Er beantwortete sie mit: „Dein Humor, deine direkte Art und dass ich nie weiß, was du als nächstes sagst, obwohl ich Menschen sehr gut lesen kann.“ Als „direkt“ würde ich mich selbst wahrscheinlich eher nicht beschreiben. Zumindest finde ich nicht, dass das eine meiner ausschlaggebenden Eigenschaften ist. Er hätte eigentlich auch nur eine einzige Sache nennen sollen. Ich hielt mich an diese Regel und erinnerte mich an unsere Zeit vor der Funkstille. Daran, wie er mir erzählt hatte, warum er Zahnarzt werden wollte.
„Weil ich den Menschen helfen will“, sagte er damals. Und ich weiß, das ist eine der häufigsten Antworten, die man zu hören bekommt, wenn man Menschen fragt, warum sie das arbeiten, was sie arbeiten. Aber die Emotion in seiner Stimme und seinen Augen war so echt und authentisch – ich kaufte ihm das sofort. Ich fand das sehr edel und ja, ich hielt ihn für einen guten Menschen. Das ist er auch bestimmt – nur ist er nicht mein Mensch. Offensichtlich.
Was ich ihm nicht verriet, war dieser eine kleine Moment, der mir auch komplett die Sprache verschlagen hatte: Als wir bei unserem ersten Date durch Frankfurt-Höchst gingen und uns dem dortigen Bahnhof näherten, wollte er durch den naheliegenden Park gehen. „Nah, lieber nicht“, sagte ich. „Da chillen immer so gruselige Gestalten.“ – „Du bist doch mit mir“, antwortete er unbeirrbar. Ich konnte da nicht mal drauf antworten. Ich war mittlerweile Männer gewohnt, die eher von mir beschützt werden wollten. So etwas hörte ich entweder zum ersten Mal, oder ich habe es schon so lange nicht mehr gehört, dass ich das erst verarbeiten musste. Er weiß das bis heute nicht, und allem Anschein nach wird er es auch nie erfahren.
Ich war wohl nicht empathisch
Naja. Wo waren wir? Bei unserem „großen“ Wiedersehen. Nachdem wir ein paar Cocktails getankt hatten, hauten wir ab, ohne zu bezahlen. Es war schon aufregend, aber kein richtiger Adrenalin-Kick, wie ich ihn ursprünglich geplant hatte. Wir spazierten durch das hässliche, nächtliche Frankfurt und landeten mit einer Flasche Bier am Main. Er sprach von allein das an, was vor unserer Funkstille geschah. Ich hätte mich plötzlich nicht mehr gemeldet, fand er. Ich hätte mich ihm gegenüber nicht empathisch verhalten, fand er.
Beim Zweiteren hatte er recht. Als er mich damals fragte, ob wir uns wiedersehen wollen, schrieb ich aus dem Nichts „ich fühl’s grade nicht“ und habe wohl, so wie ich das verstanden habe, seine Gefühle damit verletzt. Das war mir neu und das hat mir auch leidgetan. Sehr sogar. Und das, obwohl ich eigentlich diejenige war, die unendlich viel Tränen vergossen hatte. Aber egal, es war ja vorbei. Und jetzt ist sowieso alles vorbei, Leute.
Der Zahnarzt wollte nicht mit zu mir
Dann fragte er mich, ob ich mit zu ihm komme, um Shisha zu rauchen. Ich fragte – obwohl ich allen Freundinnen zuvor gesagt hatte, dass ich das unter keinen Umständen machen würde – ob er nicht lieber zu mir wolle. „Nein“, sagte er. Ich musste mich hart zusammenreißen, um nicht sofort loszuheulen. Erwartet habe ich das jetzt nicht gerade, auch nicht von mir, eine solche Frage zu stellen. Zumal das auch echt Überwindung gekostet hatte.
Wer an dieser Stelle merkt, dass der Junge etwas gemischte Signale absondert, liegt ganz richtig. Die Begründung folgte kurz darauf. Er habe irgendwas von dem, was ich vorhin in der Bar gelabert hatte, falsch interpretiert und wolle deshalb nicht zu mir. So richtig erklären konnte ich ihm auch nicht mehr, was genau ich meinte. Dafür hallte mir sein „nein“ viel zu laut in den Ohren. Dann wurde mir plötzlich kalt und ich wollte nach Hause.
Dann wollte er plötzlich doch mit zu mir
Er begleitete mich zur Haltestelle. Dann schaute er auf sein Handy und meinte, er würde seinen Zug gar nicht mehr bekommen. Er war sozusagen „gezwungen“, bei mir zu übernachten. Dennoch freute ich mich, auch wenn mit bitterem Beigeschmack. In dieser Nacht liebten wir uns wahnsinnig emotional. Die ganze Nacht. Es war so laut, dass mein Vermieter, der einen Stockwerk über mir wohnt, mir seither nicht mehr in die Augen schauen kann.
Danach würde sich der Zahnarzt jeden Tag melden. Ich fand es schön und freute mich darüber. Es fühlte sich danach an, als würden wir uns wieder annähern. Für mich jedenfalls. Klar merkte ich, dass er mir das eine oder andere Date „spontan zusagen“ wollte, wenn er denn „keine anderen Pläne“ hätte. Da machte ich aber nicht mit. Unser nächstes nicht-ganz-spontane Date sollte auch bald kommen. Wir rauchten Gras und laberten, er brachte mich fortwährend zum Lachen und fragte mich ständig, wie ich mich fühle und ob es mir gut ginge. Ich Schäfchen sah es als Indiz dafür, dass er mich mag. Natürlich freute ich mich. Zu früh.
Nachdem ich gedanklich seinen Nachnamen anprobiert hatte, ihn dazu zwang, mit mir zu basteln (er sagte, er hätte Spaß, ich schwöre; ich habe nämlich nachgefragt), ihn dazu zwang, mich zu massieren (zuvor hatte er es selbst versprochen, also selber Schuld) und wir wieder mehrfach das ganze Haus zusammengestöhnt hatten, ging er aus meinem Leben. Diesmal wahrscheinlich für immer. Er meldete sich nicht mehr. Gar nicht mehr. Und dann, nach ein paar Wochen, wieder doch. Mit einem Hitler-Sticker, Leute… Und das, obwohl er weiß, woher ich komme.
Und dann wars endgültig vorbei
Aber ja. Er meldete sich und ich signalisierte ihm gleich, dass für mich dieses on-off-Getue sehr schwierig ist. So richtig ging er nicht drauf ein. Ich verstand, dass es ihm einfach egal war. Vermutlich schon die ganze Zeit. Er fände den Sex mit mir cool, aber für mehr würde es ihm nicht reichen, weil ihm da die Kommunikation fehle – sowas abstraktes in dieser Art sprach er mir drauf. Hat richtig gesessen. Dann laberte er was von „Freundschaft Plus“, worauf ich gar nicht mehr adäquat reagieren konnte. Ich kann das alles auch überhaupt nicht mehr rekonstruieren, weil gelöscht, verdrängt und zu guter Letzt auch verarbeitet.
Was habe ich aus meiner Nicht-so-ganz-Lovestory mit dem Zahnarzt gelernt? Ich darf keine Gefühle zulassen. Sobald ich mich verliebe, ist alles vorbei. Und: ich darf Leuten, die mich schon ein Mal verletzt haben, keine zweite Chance geben. Was genau ich bei dem Zahnarzt falsch gemacht habe, weiß ich nicht und ich will es auch nicht wissen. Ob ich ihm nun zu viel oder zu wenig oder gar beides war, interessiert mich nicht. Fakt ist: Ich bedeute ihm nichts und auch wenn sich diese Einsicht ekelhaft anfühlt, ist das nicht zu ändern. Bestimmt waren auch andere Frauen im Spiel. Sei’s drum. Ich hab erstmal genug von Dates. Für die nächsten 2 bis 5 Jahre.